Zum 5. Todestag: Wie viel Liebe kann ein Mensch aushalten? Being Maradona
Kein Fußballspieler wurde so vergöttert wie Diego Maradona. Als er vor fünf Jahren starb, stand die Welt still – in Argentinien, in Neapel, in weiten Teilen des globalen Südens, aber auch in Europa, wo Fußball längst zur Industrie geworden ist und wahre Mythologie selten geworden ist. Unser Autor stellte sich schon damals eine Frage, die bis heute nachhallt: Wie viel Liebe kann ein Mensch aushalten?
I. Der Tag, an dem die Zeit stehen blieb
- November 2020. Eine Nachricht schlägt ein wie ein Erdbeben, das sich nicht ankündigt, obwohl jeder längst wusste, dass es kommen musste. Diego Armando Maradona, 60, Herzstillstand. Es war ein Moment, in dem Millionen Menschen in denselben Sekunden denselben Gedanken hatten: Das darf nicht sein. Nicht er. Nicht jetzt.
Es war nie sicher, wie Maradona sterben würde. Nur, dass er es irgendwann zu früh tun würde.
Als die Meldung um die Welt ging, brach eine Form von Trauer los, die man im Fußball schon lange nicht mehr gesehen hatte. Keine statistische Trauer, keine Social-Media-Meldungen, keine Werbebotschaften. Sondern echte Trauer. Straßen voller Menschen. Kerzen, die brannten, als gelte es, die Nacht zu vertreiben. Tränen in den Gesichtern jener Männer, die sonst daran glaubten, dass echte Männer nicht weinen.
Und damals wurde klar: Die Frage, die sich Menschen auf der ganzen Welt stellten, war nicht: Warum ist Maradona gestorben? Sondern: Wie hat dieser Mensch es überhaupt so lange ausgehalten, so viel Liebe zu tragen?
II. Der Unterschied zwischen einem Star und einem Heiligen
Es gibt Fußballstars. Es gibt Legenden. Und es gibt Diego Maradona.
Ein Star wird bewundert. Eine Legende wird respektiert. Aber ein Heiliger? Ein Heiliger wird angebetet.
In Neapel steht sein Name nicht einfach auf Wänden – er ist tätowiert auf Herzen. Er ist Mythos, Religion, Identität. Ein Mann, der eine ganze Stadt erlöst hat. Ein Mann, der aus Armut kam, eine Stadt aus Armut führte und doch selbst ein Leben lang die Last der Herkunft trug.
Die Menschen liebten ihn nicht trotz seiner Fehler. Sie liebten ihn wegen seiner Fehler. Weil sie in ihnen ihre eigenen sahen – nur in göttlicher Überhöhung.
Wenn er fiel, fiel er für alle. Wenn er kämpfte, kämpfte er für alle. Und wenn er triumphierte, dann tat er es auf eine Weise, die die Menschen glauben ließ, sie hätten es selbst geschafft.
Liebe dieser Form ist keine Umarmung – sie ist ein Orkan. Sie reißt dich mit. Sie macht dich größer als das Leben. Und sie verschlingt dich, wenn du nicht aufpasst.
Maradona passte nie auf. Er wollte es auch nicht.
III. Der Junge, der nie erwachsen werden durfte
Vielleicht ist die einfachste Wahrheit über Maradona die folgende: Er war nie dafür gemacht, erwachsen zu werden.
Er blieb “El Pibe de Oro”, der goldene Junge, selbst als er längst keine Haare mehr hatte und sich sein Körper unter Jahrzehnten der Exzesse krümmte. Ein Kind, das sich wunderte, warum die Welt so viel von ihm wollte.
Die Frage ist nicht, warum Maradona dem Alkohol und Drogen verfiel. Die Frage ist, wie jemand nicht zerbricht, wenn ein ganzer Kontinent dich auf seinen Schultern trägt.
Wie überlebt man eine solche Last? Wie bleibt man Mensch, wenn Millionen dich als Gott sehen?
Man bleibt es nicht. Man versucht es. Man scheitert. Man steht wieder auf. Man versucht es erneut.
Und genau darin lag Maradonas Größe: Nicht in der Perfektion, sondern in der Unmöglichkeit, perfekt zu sein.
IV. Der Ball, der ihn befreite
Auf dem Platz war er frei. Nur dort.
Dort konnte ihn niemand berühren, niemand kritisieren, niemand formen. Sein Körper, der ihn im Alltag oft verriet, gehorchte ihm dort wie ein Werkzeug aus Licht. Der Ball war für ihn kein Gegenstand – er war ein Begleiter. Ein Vertrauter. Ein zweites Herz.
Maradona definierte Fußball nicht über Laufwege, Systeme, Statistiken.
Er definierte Fußball über Emotion, Intuition, Widerspruch.
Er war gleichzeitig der beste Spieler und der schlechteste Profi. Heiliger und Sünder. Sieg und Niederlage in einem Körper.
Nur wenige Spieler verstanden das Spiel wie er: nicht als Sport, sondern als Ausdruck einer Wahrheit, die Worte nicht tragen konnten. Wenn Maradona spielte, spielte er nicht 90 Minuten – er spielte sein Leben, seine Herkunft, seine Not und seine Wut.
V. Der Preis des Göttlichen
Was bedeutet es, wenn Millionen Menschen dich als Gott verehren?
Götter dürfen nicht schwach sein.
Götter dürfen nicht zweifeln.
Götter dürfen nicht müde werden.
Maradona wurde müde. Immer wieder.
Und die Menschen liebten ihn trotzdem weiter – weiter, stärker, unaufhaltsamer.
Je kaputter er wurde, desto heiliger wurde er.
Je menschlicher er war, desto göttlicher wirkte er.
Ein Widerspruch, der ihn rettete und zerstörte.
Denn Liebe dieser Größe ist keine Ressource.
Sie ist eine Last, die niemand tragen kann – nicht einmal Maradona.
VI. Der Tod, der kein Abschied war
Als Maradona starb, begann etwas Seltsames: Er verschwand – aber er blieb.
Menschen weinten, als hätten sie einen Bruder verloren.
Die Albiceleste trug Schwarz wie um einen Staatschef.
Neapel brannte Kerzen an jeder Straßenecke.
Argentinien nannte ihn das Herz der Nation.
Fünf Jahre später merkt man:
Der Tod war kein Ende.
Er war eine Erweiterung des Mythos.
Denn die Frage lautet nicht mehr: Wer war Maradona?
Sondern: Warum fehlte uns jemand wie er?
VII. Wie viel Liebe kann ein Mensch aushalten?
Maradona beantwortet diese Frage nicht mit Worten, sondern mit Leben.
Er konnte viel aushalten.
Mehr als jeder andere Spieler.
Er hielt Liebe aus, die ihn erdrückte.
Er hielt Erwartungen aus, die unmenschlich waren.
Er hielt Schmerzen aus, die andere gebrochen hätten.
Aber er konnte sie nicht kontrollieren.
Er konnte sie nicht steuern.
Er konnte sie nicht portionieren.
Und am Ende ist die Antwort vielleicht tragisch und wahr zugleich:
Ein Mensch kann unendlich viel Liebe aushalten – aber er kann nicht unendlich viel davon überleben.
VIII. Was von ihm bleibt
Was bleibt von Maradona?
Kein Spieler hat eine Stadt so verändert wie er Neapel.
Kein Spieler hat ein Land so repräsentiert wie er Argentinien.
Kein Spieler hat die Welt so gespalten, so entzückt, so verwirrt.
Maradona war die Widersprüchlichkeit des Lebens in einem Menschen.
Er war nie dafür gebaut, ein Held zu sein.
Und wurde trotzdem der größte von allen.
Im Licht wie im Schatten.
Im Triumph wie im Absturz.
In der Liebe wie in der Verzweiflung.
Fünf Jahre nach seinem Tod bleibt er das, was er immer war:
Ein Mensch, der zu viel Liebe erhielt – und sie trotzdem weitergab.
Ein Mythos, der nie sterben wird.
Ein Fußballer, der kein Fußballer war, sondern ein Gefühl.


