Fankultur

Drama bei 1860 München

Zwischen Chaos, Gerüchten und Klubpolitik: Verwaltungsrat Nicolai Walch erklärt, warum die Lage komplexer – und weniger brisant – ist, als viele glauben.

Stefan Müller26. November 202514 Min.
Drama bei 1860 München

**Drama bei 1860 München

„Sollte man sich freuen, wenn stattdessen ein Heuschreckenunternehmen einsteigt?“**

Bei kaum einem deutschen Klub prallen Emotionen, Tradition, Politik und Investorenlogik so heftig aufeinander wie beim TSV 1860 München. Die vergangenen Wochen waren wieder ein Paradebeispiel dafür, wie schnell beim Traditionsverein aus Giesing alles ins Chaos kippt. Kaum ein Tag verging ohne neue Meldung: Hasan Ismaik verkauft. Dann verkauft er doch nicht. Dann soll es internationale Interessenten geben. Dann dementiert jemand aus seinem Umfeld. Kurz darauf heißt es wieder: „Deal steht bevor.“

Die Löwenfans schwanken zwischen Hoffnung, Panik, Erleichterung und Wut. Doch einer, der tiefer in der Materie steckt als die meisten, bremst: **Nicolai Walch**, Verwaltungsrat im e.V. und gleichzeitig Beirat der KGaA. Er sieht die Lage differenziert – und erklärt, warum vieles weniger dramatisch ist, als es scheint.

Ein Verein, der die Extreme liebt

1860 München ist kein gewöhnlicher Fußballverein. Er ist ein Gefühl, ein Kult, ein Chaosfaktor. Die Geschichte der Löwen ist geprägt von Aufstiegen, Abstürzen, historischen Momenten und bitterer Ernüchterung. Und immer, wirklich immer, hängt über allem ein Hauch von Tragikomik.

Auch diesmal.

Ausgangspunkt der jüngsten Aufregung: Medienberichte, Ismaik befinde sich in konkreten Verkaufsverhandlungen. Die Gerüchte überschlugen sich. Mal war es ein Premier-League-Konsortium, dann ein amerikanischer Fonds, dann eine mysteriöse Investorengruppe aus dem Nahen Osten. Die Fans diskutierten, die Presse spekulierte, die Foren brannten.

Doch Walch betont:

**„Wir haben keine belastbaren Informationen, dass ein Verkauf unmittelbar bevorsteht.“**

Es ist eine nüchterne Aussage inmitten eines nervösen Umfelds, in dem Gerüchte oft mehr Wirkung entfalten als Tatsachen.

Ismaik: Hoffnungsträger, Feindbild, Fragezeichen

Seit 2011 ist Hasan Ismaik bei 1860 München – und doch wirkt die Beziehung bis heute wie eine Zwangsehe. In den Augen vieler Fans:

- finanzierte er Fehlentwicklungen, statt sie zu verhindern

- forderte er Macht, ohne Verantwortung zu übernehmen

- polarisierte er durch unklare Kommunikation

- blockierte er strukturelle Reformen

Und dennoch: Ohne sein Geld hätte es den Klub mehrfach hart getroffen. Genau das macht die Einschätzung so schwierig.

Walch formuliert es diplomatisch:

**„Ein Verkauf ist kein Selbstläufer in eine bessere Zukunft.“**

Für viele Fans klingt das ernüchternd. Doch er hat recht.

Wer würde überhaupt kaufen?

Die romantische Vorstellung vom „guten Investor“, der aus Liebe zur Tradition einsteigt, ist im modernen Fußball nahezu ausgestorben. Die heutigen Käufer sind:

- Beteiligungsgesellschaften

- internationale Investmentfonds

- Multi-Club-Modelle

- Private Equity

- US-Sportgruppen

- opportunistische Kapitalgeber

Diese Investoren interessieren sich selten für Tradition, Mitgliederbasis oder Fankultur. Sie suchen Rendite. Einfluss. Skalierbarkeit.

Deshalb stellt Walch die Frage, die kaum jemand stellt:

**„Sollte man sich freuen, wenn stattdessen ein Heuschreckenunternehmen einsteigt?“**

Das Zögern dahinter ist berechtigt.

Ein Investor, der finanzielle Interessen über die Identität des Vereins stellt, könnte ein viel größeres Risiko sein als das, was man heute hat.

1860 ist kein einfacher Deal

Was viele vergessen: Die Struktur bei 1860 ist einzigartig kompliziert.

- Der e.V. hat 50% + 1 Stimme

- Ismaik besitzt 60% der KGaA-Anteile, aber *keine* Kontrolle

- Wichtige Entscheidungen müssen durch beide Seiten

- Der Verein ist nicht frei veräußerbar

- Investoren müssen die 50+1-Regel akzeptieren

Für viele Investoren, die alleinige Macht wollen, ist das ein Ausschlusskriterium.

Walch erklärt:

**„Ein Erwerber müsste bereit sein, in einer Struktur zu arbeiten, die ihn nicht zum Alleinherrscher macht. Viele Investoren wollen das nicht.“**

Kurz:

1860 ist kein „normaler Klub“, den man einfach kauft.

Man übernimmt einen komplizierten Hybrid aus Tradition, Chaos und Regulierung.

Die Fans: Hoffen, Leiden, Zweifeln

Die Löwenfans sind leidenschaftlich, laut und oft tief verletzt. Sie mussten ertragen:

- den Abstieg in die Regionalliga

- öffentliche Machtkämpfe

- gescheiterte Trainer

- Konflikte zwischen Investor und e.V.

- Stadionstreitigkeiten

- sportlichen Stillstand

Für viele wirkt ein Verkauf wie ein Befreiungsschlag. Aber Walch mahnt zur Vorsicht:

**„Wir können uns nicht von Gerüchten treiben lassen.“**

Er kritisiert die Dynamik, mit der Medien und soziale Netzwerke Konflikte hochkochen und Stimmungen verändern.

Kann 1860 unabhängig werden?

Die Frage wirkt utopisch – aber sie ist legitim.

Kurzfristig: nein.

Langfristig: vielleicht.

Ein nachhaltiger Weg wäre möglich, wenn:

- Sponsoren gezielt aufgebaut werden

- Jugendarbeit gestärkt wird

- sportliche Kontinuität geschaffen wird

- Kompetenz im Sportvorstand Priorität hat

- wirtschaftliche Stabilität Vorrang hat

Es wäre ein Weg wie in Freiburg, St. Pauli oder Heidenheim – allerdings deutlich schwieriger.

Walch sagt:

**„Es braucht Leute, die verstehen, dass Stabilität wichtiger ist als schnelle Lösungen.“**

Der Sport: nicht Ursache, aber Verstärker

Sportlicher Erfolg oder Misserfolg ist bei 1860 nie nur sportlich. Jede Niederlage bekommt politische Bedeutung. Jeder Trainerwechsel wird ein Machtkampf. Jeder Transfer wird ein Symbol.

Das Team selbst zahlt den Preis.

Weniger Chaos würde helfen, aber dafür müssten zuerst die Strukturen beruhigt werden.

Was passiert, wenn Ismaik wirklich verkauft?

Ein Verkauf hätte folgende mögliche Szenarien:

### 1. Ein seriöser, langfristiger Investor steigt ein

Selten, aber nicht unmöglich.

Er würde Strukturen professionalisieren und Ruhe reinbringen.

### 2. Ein renditeorientierter Fonds übernimmt

Gefährlich.

Der Klub würde zum Geschäftsmodell.

### 3. Ein globaler Multi-Club-Verbund greift zu

Möglich, aber riskant für die Identität.

### 4. Interne Lösungen (Mitglieder, Sponsoren, regionale Partner)

Stabiler, aber finanziell schwieriger.

Welches Szenario realistisch ist?

Zurzeit keines sicher.

Fazit: Kein Drama – sondern ein Systemproblem

Das eigentliche Drama bei 1860 München ist nicht Ismaik.

Es ist die Struktur, die Kultur, die Kommunikation, die Fragmentierung des Vereins.

Ein Investor kann helfen, aber nur, wenn er die Tradition versteht.

Ein Verkauf kann schaden, wenn der Käufer die Werte ignoriert.

Walchs Satz bleibt hängen wie eine Warnung:

**„Sollte man sich freuen, wenn stattdessen ein Heuschreckenunternehmen einsteigt?“**

Es ist die Frage, die sich jeder Löwe stellen sollte.

Der TSV 1860 München braucht nicht den nächsten großen Knall.

Er braucht Ruhe.

Er braucht Klarheit.

Er braucht ein gemeinsames Ziel.

Und bis dahin bleibt alles, wie es bei den Löwen immer war:

kompliziert, emotional, und niemals langweilig.

S

Stefan Müller

Redakteur bei KickKultur