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„Being Jérôme Boateng“ – Wer ist hier das Opfer?

Eine ARD-Doku über Jérôme Boateng will zum Nachdenken über Idole anregen – und liefert am Ende ein mutloses Bild. Eine kritische Einordnung.

Anna Schmidt26. November 202514 Min.
„Being Jérôme Boateng“ – Wer ist hier das Opfer?

**„Being Jérôme Boateng“

Wer ist hier das Opfer?**

Eine Doku rollt Leben und Skandale des Jérôme Boateng neu auf, will zum „Nachdenken über unseren Umgang mit Sport-Idolen“ anregen. Wer die Serie schaut, denkt tatsächlich nach: Wieso zeigt die ARD einen derart mutlosen Dreiteiler?

# I. Ein Versuch, der keiner ist

Eine ARD-Doku über einen der erfolgreichsten deutschen Fußballer der Moderne müsste ein Volltreffer sein: Weltmeister, Champions-League-Sieger, aber auch Angeklagter in mehreren Verfahren wegen Körperverletzung. Doch der Dreiteiler wirkt schon in den ersten Minuten gehemmt. Er will alles ansprechen – aber nichts davon wirklich aussprechen. Er will kritisch sein – ohne je zu riskieren, unbequem zu werden. Er will erzählen – ohne zu verletzen. Und genau dort beginnt das Problem.

# II. Der Mann zwischen Legende und Abgrund

Jérôme Boateng ist ein Spieler, der Fußballgeschichte geschrieben hat – und seit Jahren Schlagzeilen, die nichts mit Sport zu tun haben. Gewaltvorwürfe, Gerichtsprozesse, tragische familiäre Ereignisse und ein medialer Wirbel, der längst größer ist als seine Karriere. Ein Leben voller Widersprüche. Ein Leben, das nach journalistischer Tiefe schreit. Doch die Doku scheut genau diese Tiefe.

# III. Die Doku hat Angst vor ihrer eigenen Geschichte

„Being Jérôme Boateng“ wirkt wie eine Biografie, die auf Zehenspitzen läuft. Interviews bleiben höflich und vorsichtig, zentrale Fragen werden gestreift, aber nie vertieft. Die Doku scheint einen unausgesprochenen Pakt geschlossen zu haben: Wir zeigen die dunklen Stellen – aber wir machen kein Licht an. Die Sprache gleitet permanent in Unverbindlichkeit. Alles wirkt kuratiert, geglättet, risikoarm. Was fehlt, ist Mut. Was fehlt, ist Haltung.

# IV. Das strukturelle Versagen

Die ARD steht beim Sportjournalismus stets zwischen zwei Polen: Nähe zum System und Anspruch der Kritik. In diesem Fall kippt das Gleichgewicht komplett. Die Gespräche wirken häufig wie vorbereitete PR-Bausteine. Die Erzählungen folgen einer Chronologie, die kaum Hinterfragen zulässt. Die entscheidenden Fragen – Macht, Verantwortung, Gewalt, Männlichkeit – fehlen fast vollständig. Die Doku zeigt Boatengs Version, aber nie die Mechanismen, die solche Geschichten erst möglich machen.

# V. Die Frage der Verantwortung

Ein öffentlich-rechtlicher Sender darf bei heiklen Themen nie neutral bleiben. Eine Doku über einen Mann, der wegen Gewalt verurteilt wurde, muss die Frage stellen: Wie gehen wir gesellschaftlich mit solchen Fällen um? Doch die ARD lässt entscheidende Perspektiven aus: strukturelle Gewalt, Opferdarstellungen, Machtgefälle. Ohne diese Themen bleibt nur eine Biografie. Und eine Biografie ist keine Analyse.

# VI. Das Opfer-Narrativ – die gefährliche Falle

Die Doku formt ein mildes Bild: der verletzte Superstar, der unter Druck stand, der von Erwartungen erdrückt wurde, der sich im Ruhm verlor. Doch wo bleibt die Perspektive der Frauen, die ihn belastet haben? Wo bleibt ihre Stimme? Ihre Realität? Ihr Trauma? Sie erscheinen nur als Schattenrisse. Das Opfer in diesem Dreiteiler ist nicht Boateng. Es ist die journalistische Verantwortung.

# VII. Der Fußball – der große Schweiger

Die Doku hätte die perfekte Bühne geboten, um ein größeres System zu beleuchten:

– Wie gehen Vereine mit Gewaltvorwürfen um?

– Warum schützt der Fußball seine Stars?

– Welche Rolle spielen Medien bei der Mythenbildung?

– Warum wird Täterkritik im Sport so oft weichgespült?

Doch nichts davon passiert. Die ARD erzählt, was sie erzählen kann – nicht, was erzählt werden müsste.

# VIII. Was „Being Jérôme Boateng“ hätte sein können

Ein Meilenstein.

Ein Beitrag zur #MeToo-Debatte im Sport.

Ein ehrlicher Blick auf die Schattenseiten des Idolkults.

Ein Spiegel für Fans, Vereine und Medien.

Stattdessen bleibt der Dreiteiler zögerlich und folgenlos. Eine große Bühne – ungenutzt.

# IX. Warum die Serie trotzdem wichtig ist

So schwach der Dreiteiler ist, so wichtig ist die Debatte, die er anstößt. Man spricht wieder über Gewalt, über Macht, über Verantwortung. Man spricht über Täter-Opfer-Narrative, über den Umgang mit Idolen, über journalistische Auftragsethik. Die Doku selbst ist kein guter Film. Aber sie zeigt, wie groß der Bedarf nach ehrlicher Aufarbeitung ist.

# X. Schluss: Wer ist hier das Opfer?

Die Antwort ist einfach: Nicht Jérôme Boateng.

Das Opfer ist die Chance auf eine mutige, relevante gesellschaftliche Debatte.

Eine Debatte, die es dringend braucht – gerade im Fußball, gerade im Umgang mit Heldenbildern.

Die Doku ist mutlos. Doch das Gespräch, das sie auslöst, darf es nicht sein.

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Anna Schmidt

Redakteur bei KickKultur